Über die Faszination der US-amerikanischen Musik
Träge schleppt sich das Wasser durchs Mississippi-Delta südlich von Memphis. Manchmal sieht es aus wie in einem Überschwemmungsgebiet: Kleine Landzungen, auf denen ein paar windschiefe Hütten stehen, ragen noch aus dem braunen Wasser. Die Landschaft wirkt verletzt, als würde noch nachwirken, was die weißen Herrscher hier früher mit den Farbigen trieben, die auf den Baumwollfeldern bis zum Umfallen schuften mussten. Wenn man durchs Mietwagen-Fenster auf das flache Land blickt, tauchen vor dem geistigen Auge die Unterdrückten von damals auf, man sieht ihnen zu, wie sie ihr Leid klagen und beginnen, leise vor sich hin zu singen. Man kann sich vorstellen, wie der Blues, die traurige Musik, auf den weiten Feldern zu voller Blüte gelangte. Dort auf dem Boden liegen die Wurzeln der amerikanischen Musik. Ein Roadtrip von Blues bis Country, von Soul bis Rock and Roll.
Die Reise muss an jenem Ort beginnen, an dem der Blues den Sprung auf die Bühne schaffte: die Dockery Plantation, eine ehemalige Farm bei Ruleville im Sunflower County. Sie liegt rund 150 Kilometer südlich von Memphis. Wer sie nicht kennt, fährt achtlos an dem grünen Fleckchen vorbei. Der Wind klappert mit den Brettern der alten Scheunen, immerhin gibt es eine Infotafel und eine Art kleine Bühne. Wenn man auf einen Knopf drückt, scheppert Charley Patton aus den Boxen. Er gilt als erster (kommerzieller) Blues-Musiker und hatte dort vor rund 100 Jahren seinen ersten großen Auftritt. B.B. King adelte diesen Platz Jahrzehnte später, als er sagte: „Hier fing alles an.“ Wer Glück hat, trifft an der Plantation auf William „Billy“ Lester, der in einer nahen, ehemaligen Tankstelle sein Büro eingerichtet hat. Er hält die Story am Leben, seine Geschichten sind Blues-Geschichte, handeln davon, wie die Musiker ihre Seele an den Teufeln verkauften, um die Gitarre perfekt zu beherrschen. „Die Wahrheit ist nicht viel besser.“ Obwohl die Sklaverei längst abgeschafft war, wurden die Farbigen immer noch wie Vieh gehalten. Die Dockery Plantation mit medizinischer Versorgung und geregelten Arbeitszeiten wirkte da wie von einem anderen Stern. Die Arbeiter hatten abends noch Kraft, um auf die Bühne zu steigen und Songs von sich zu geben. Sie durften damit sogar Geld verdienen und damit begann hier der rasante Aufstieg des Blues im frühen 20. Jahrhundert.
Baumwolle ist immer noch die wichtigste Exportware der Region. Der harte Job wird lausig bezahlt, aber es gibt kaum andere Arbeitsplätze im Mississippi-Delta, das bis heute ohne Industrie ist. Deswegen bluten die kleinen Städte aus und verfallen. Sie machen teils einen traurigen Eindruck, aber auf Musik-Touristen kann gerade das einen charmanten Effekt haben. Das Örtchen Clarksdale, Heimat von John Lee Hooker und weiterer Pflichtstopp auf der Route, wäre mit blühenden Geschäften, sauberen Pubs und eleganten Hotels nicht vorstellbar. Der Blues wabert durch die verfallenen Hinterhöfe und bröckelnden Straßen. Ein junger Mann sitzt mit Gitarre vor einem Music-Store und klagt singend über die Welt. Er trifft nicht jeden Ton, aber auch das passt nach Clarksdale. Wer perfekt ist, kommt nicht hierher, der rockt die großen Bühnen. Und eben diesen Eindruck vermittelt auch das kleine Blues-Museum im alten Bahnhof: Man gibt sein Bestes, aber es ist halt nicht ganz so einfach, wenn Geld und Inspiration fehlen. Eine Ausnahme muss allerdings genannt werden: Zur Ausstellung gehört eine „Sharecropper Shack“, eine Hütte, in der früher die Unterdrückten untergebracht waren und die ohne große Erklärungstafeln deren Dilemma verdeutlicht. Sie ist eng und klein, ohne Trennwände. Man kann durch die Schlitze zwischen den Zypressenholz-Balken hindurchblicken. Will heißen: Du bist nicht im Gefängnis, aber ich habe dich ständig im Blick. Und wenn du rausgehst, dann nur aufs Feld zum Arbeiten.
B.B. King hatte es da schon ein wenig besser, er konnte sich frei bewegen. Um seine frühen Spuren zu finden, muss man nach Indianola, wo auch ein grandioses Museum zu seinen Ehren steht. Es gibt eine Vielzahl starker Filme und interaktiver Momente. So darf man als DJ die Stilrichtungen wild mixen und auf Tonträger bannen. Die Ausstellung geht weit über B.B. King und den Blues hinaus, denn auch der Rassenhass und die Bürgerrechts-Bewegung sind große Themen. Und man kann virtuell schon einmal in das bunte Leben von Memphis eintauchen. Wie so viele Musiker machte sich auch B.B. King auf nach Memphis. Der Ort ist natürlich der Höhepunkt dieses Roadtrips, vor allem ist er die (ehemalige) Musik-Hauptstadt der USA, in dem sich die Blues-Musiker zu Stars entwickelten, Johnny Cash den Country groß rausbrachte (oder umgekehrt), Elvis rockte und heute immer noch viele von ihrer Karriere träumen. So wie Mike McCallan, der auf seinen Auftritt wartet. Wenn die Besucher nachher weg sein werden, wird der Sänger für eine Nacht den Aufnahmeraum des legendären Sun Studios betreten, um sein erstes Album auf Tonträger zu bannen. Er finanziert alles aus eigener Tasche und hat damit einen prominenten Vorgänger: Ein gewisser Elvis Aaron Presley schneite 1953 herein, legte ein paar Scheine auf den Tresen und sang zum ersten Mal in ein Mikrofon. Der Raum ist angeblich unverändert. Dem gelben, zerkratzten und abgeschlagenen Fliesenboden ist anzusehen, das Johnny Lee Lewis oder Roy Orbison darüber rockten. Tagsüber stehen jetzt hier die Musik-Touristen und hören sich Geschichten an über die wilden Zeiten und Partys. Wenn sie abziehen, erwacht das Studio wieder zu richtigem Leben. Für 2000 Dollar pro Nacht lebt der Traum von der eigenen Musik-Karriere. „Wenigstens einmal wie Elvis fühlen“, sagt Mike zum Abschied.
Man stößt noch auf andere Mikes, Toms und Franks, die alles geben würden, um musikalisch groß rauszukommen. Sie treffen sich nachts in den Bars und Clubs der legendären Beale Street, die früher fest in afroamerikanischer Hand und das Herz von Blues und Soul war. Heute ist sie eine abgesperrte, autofreie Straße mit viel Leucht-Reklame und „How-do-you-do?“-Türstehern, die einem die Hand schütteln und erst wieder loslassen, wenn man im Club steht. Wer es bis zum Ende durchschafft, landet am Basketball-Stadion und vor den Showräumen der Gibson-Gitarrenfabrik. Es ist ein Vergnügungsviertel entstanden, in dem sich alljährlich Hundertausende austoben. Viele fahren natürlich auch ins nahe Graceland, um das zu bewundern, was von Elvis geblieben ist. Für Musik-Fans ist es ein Muss, das Fernseh- und das Dschungelzimmer des Kings zu sehen, seine Limousinen und Sportwagen zu knipsen und durch seinen Privatjet zu stolzieren. Man wünscht sich, dass ein bisschen von diesem Ruhm und Glanz auf die Dockery Plantation überspringen würde. Schließlich hat dort alles begonnen…
Christian Schreiber
Die Reise wurde unterstützt von Memphis und Mississippi Tourism.
INFOS:
Anreise
Memphis ist von Deutschland aus in der Regel z. B. mit Delta mit einem Zwischenstopp erreichbar. Zwischenlandung meist ist in Atlanta. Der Aufenthalt kann zwischen 2 und 8 Stunden sein. www.delta.com
Memphis
Zum Staunen: Blues Hall of Fame www.blues.org, Stax Museum www.staxmuseum.com, Music Hall of Fame www.memphismusichalloffame.com, Sun-Studios www.sunstudio.com, Gibson-Gitarrenfabrik www.gibson.com
Zum Genießen: Flying Fish, originelles Fisch-Restaurant mit großer Auswahl und günstigen Preisen. www.flyingfishinthe.net
Zum Abtanzen: B.B King’s Blues Club (www.bbkings.com) und zahlreiche weitere Clubs auf der Beale Street. www.bealestreet.com
Zum Ausruhen: Sleep in at Court Square, zentral, aber ruhig gelegen. Ab rund 95 Euro pro Nacht/Zimmer, buchbar etwa über: www.tripadvisor.de
Mississippi-Delta
Zum Staunen: Delta Blues Museum und Rock und Rock& Blues Museum (beide Clarksdale) www.deltabluesmuseum.org, www.blues2rock.com, Dockery Plantation www.dockeryfarms.org, B.B. King-Museum (Indianola) www.bbkingmuseum.org
Zum Genießen: Delta Meat Market (Cleveleand), Edel-Metzgerei und Restaurant mit großer Bierauswahl. www.deltameatmarket.com
Zum Abtanzen: Ground Zero Blues Club, zählt zu den besten und authentischsten Musik-Clubs in den USA. Der Schauspieler Morgan Freeman zählt zu den Mitbesitzern. www.groundzerobluesclub.com
Zum Ausruhen: Hampton Inn (Greenwood). Etwa 80 Euro pro Nacht/Zimmer. www.hamptoninn3.hilton.com