In den Wiener Kaffeehäusern fallen täglich rund 400 Tonnen Kaffeesatz an. Um ihn weiterzuverwerten, gibt es viele Möglichkeiten. Eine besteht darin, den fruchtbaren Kaffeerest an Pilzzüchter zu übergeben. Der Grund: Dieser bildet einen hervorragenden Nährboden für Austernpilze, Rosenseitlinge, Limonenpilze oder Pioppino.
Die Frau führt den Löffel zögerlich zum Mund. Als sie die Suppe schluckt, schließt sie die Augen und verzieht keine Miene. Ihr Problem: Sie weiß ganz genau, was im heutigen Menü drin ist. Schließlich hat sie einen Kochkurs im Herzen von Wien belegt. Gemeinsam haben die Teilnehmer Kürbisse geschnipselt, Salate angerichtet, Pizzaschnecken und Cookies gebacken. Aber die Zutaten sind gewöhnungsbedürftig. Die Suppe ist mit gerösteten Mehlwürmen garniert, unter dem Rucola verstecken sich Grillen, der Teig ist mit Buffalowurm-Mehl gebacken.
Der Insekten-Kochkurs richtet sich an Einsteiger, die weg vom Fleisch wollen, die Massentierhaltung satt und die Erderwärmung im Blick haben. Grille und Co. liefern wertvolles Eiweiß, Vitamine und Nährstoffe. Sie sind nahrhaft und gesund, gelten als nachhaltige Alternative zu Fleisch von Nutztieren und als klima-
freundlich, heißt es auf verbraucherzentrale.de. Der Grund: Sie brauchen weniger Platz und Wasser, verursachen weniger Treibhausgase.
Wien – lebenswert und nachhaltig
Freilich kommt der klassische Wien-Tourist wegen Stephansdom, Hofburg oder Schloss Schönbrunn. Er dreht eine Runde mit dem Fiaker oder mit dem Riesenrad auf dem Prater. Kaiser, Kathedralen, k und k – auf den ersten Blick scheint die österreichische Hauptstadt in der Vergangenheit festzustecken. Dabei ist Wien eine fortschrittliche und soziale Metropole, die sich laut einem Ranking des „Economist“ im Sommer 2022 mit dem Titel „lebenswerteste Stadt der Welt“ schmücken darf. Sie ist ein Vorbild in Sachen Infrastruktur, Bildung, Gesundheitsversorgung, Stabilität und Kultur, heißt es bei der britischen Zeitschrift.
Da passt es gut ins Bild, dass sich mehr und mehr Bewohner um eine nachhaltige Lebensweise bemühen, vor allem wenn es um das Thema Ernährung geht. Damit sind jetzt nicht nur die Insekten-Lokale und -Kochkurse gemeint. In Wien steht das erste Restaurant, dass für seine vegetarische Küche einen Michelin-Stern bekam. Es gibt eine Vielzahl an Weltverbesserern, die in der Stadt wirken. Sie kämpfen gegen Lebensmittelverschwendung, setzten sich für einen verantwortungsvollen Umgang mit den natürlichen Ressourcen ein, wenden sich gegen klimaschädliche Importe und treten für eine regionale Landwirtschaft der kurzen Wege ein. Wer nach Wien reist, sollte deshalb nicht nur die große Tür am Stephansdom öffnen, sondern auch hinter die Kulissen einer Stadt blicken, die sich anstrengt, ein Vorbild in Sachen nachhaltiger Lebensmittelversorgung zu werden.
Aquaponik als kombinierte Fisch- und Gemüsezucht
Landwirtschaftliche Betriebe gehören zum Stadtbild von Wien. Einer davon ist Blün. In den Glashäusern, die direkt an ein Mittelschichtviertel mit gepflegten Gärten grenzen, wachsen Tomaten und Zucchini. Unspektakulär. Aber nur auf den ersten Blick. Denn in der Halle hinter dem gut besuchten Hofladen, befindet sich eine Aquaponik-Anlage, die Fisch- und Gemüsezucht miteinander kombiniert und auf diese Weise Wasser und Dünger einspart. Welse schwimmen in großen Becken. Sie brauchen viel frisches Wasser, das aber nicht in die Kanalisation gelangt, sondern in einen Biofilter. Bakterien wandeln das Ammoniak, das in den Ausscheidungen der Fische enthalten ist, in Dünger um, über den sich Tomaten und Zucchini freuen. Das Wasser, das die Pflanzen nicht benötigen, kommt quasi gereinigt in die Fischbecken zurück. „Wenn wir das den Leuten erzählen, können sie es erst nicht glauben. Aber dann rennen sie uns die Bude ein“, erzählt Leo Sonten, der das Projekt leitet. Bei Führungen gelten strenge Hygienevorschriften, damit keine Raupen, Fliegen oder Würmer eingeschleppt werden. Schließlich kommen in den Gewächshäusern laut Sonten nur Nützlinge zum Einsatz, um Schädlinge zu bekämpfen. Als Bestäuber sausen Hummeln von Pflanze zu Pflanze. Auch beim Wels versuchen die Blün-Mitarbeiter so nachhaltig wie möglich zu agieren und stellen aus den Eingeweiden eine Fischsoße her. Die Ware geht an Restaurants in der Stadt, auf nahe Märkte und an die Nachbarn von gegenüber. Sonten: „Wir produzieren in Wien für Wien. Das ist das Beste, was man machen kann.“
Altbrot wird „Brüsli“
Sarah Lechner hat ihr Projekt weiter gefasst. Sie agiert von Wien aus, erreicht mit ihrer Idee aber längst ganz Österreich und hat ihre Fühler bereits nach Deutschland ausgestreckt. Bei ihr geht es um altes Brot, das sonst Richtung Müllkippe wandern würde. „Jedes fünfte Brot landet in der Tonne. Wir sprechen von 600.000 Kilo in Österreich – jeden Tag. Das ist absurd.“ Aus dem alten Backwerk könne man doch Müsli machen, habe damals ihr fünfjähriger Sohn vorgeschlagen. Die Mutter hat erst gelächelt. Dann dachte sie sich: „Warum nicht, einen Versuch ist es wert.“ Zusammen mit ihrem Mann Michael Berger mietete sie eine Großküche in Wien für die Nachtstunden an. Tagsüber gingen die beiden noch ihren Jobs in der Entwicklung von Medizinprodukten nach. Sie zerkleinerten das Brot, schoben Bleche voller Brösel in große Öfen, um das letzte bisschen Feuchtigkeit raus zu backen. Danach: Öl und Zucker zugeben, nochmal backen. Nach einer Woche ohne Schlaf rollten sie mit ihrem Lasten-Fahrrad auf einen kleinen Markt und präsentierten stolz ihr „Brüsli“, das wegging wie warme Semmeln. Mittlerweile steht das Müsli in zahlreichen Supermarkt-Regalen in Österreich. Nach eigenen Angaben führen die Gründer bereits Gespräche mit Großbäckereien in Deutschland, denn eines sei sicher: „Auch dort gibt es jeden Tag Tonnen von Brot, das in den Müll wandert.“ Allerdings gestaltet sich die weitere Finanzierung des Start-Ups als problematisch. Ob und wie es weitergeht, ist derzeit noch offen.
Kaffeesatz als Nährboden für Pilze
Vor allem in Großstädten gibt es vermehrt Initiativen, um Lebensmittel zu retten. So beteiligen sich in Wien bereits viele Hundert Restaurants, Cafés, Supermärkte, Bäckereien und Hotels zum Beispiel an der Initiative „Too Good To Go“, die auch in Deutschland populär ist. Die Unternehmen geben überschüssiges Essen und übrig gebliebene Nahrungsmittel zu einem stark vergünstigten Preis an Selbstabholer. Wien hat darüber hinaus noch ein besonderes Potenzial: Auch dank der traditionellen Kaffeehäuser, die Kulturgut in Wien sind, fallen täglich rund 400 Tonnen Kaffeesatz an. Der kann theoretisch zwar auf den Kompost, doch vermehrt landet er bei Pilzzüchtern, weil er einen hervorragenden Nährboden für Austernpilze, Rosenseitlinge, Limonenpilze oder Pioppino bildet. Aus diesen wiederum lassen sich unter anderem vegane Würstchen herstellen.
Vegane Würstchen für Wien
Die Schlange vor dem „Wiener Würstelstand“ in der Josefstadt ist lang. Der Verkäufer nimmt sich trotzdem Zeit und erklärt einem spanischen Paar die Sache mit dem Kaffeesatz und den Pilzen. Die beiden Spanier bestellen ein veganes Exemplar, setzen sich und öffnen dazu ein Glas Essiggurken, das sie gerade auf dem Markt gekauft haben. Es handelt sich um eine Wiener Spezialität. 30 Tonnen Gurken wachsen alljährlich in der Metropole, vornehmlich in den Vierteln Favoriten, Floridsdorf und Donaustadt, wo der Ackerbau seine Heimat gefunden hat (mehr unter stadtlandwirtschaft.wien/about). Rund die Hälfte der Fläche Wiens ist Grünland. Innerhalb der Stadtgrenzen gibt es fast 600 landwirtschaftliche Betriebe, die zwischen März und November mehr als 70 Tonnen frisches Gemüse ernten, das sie zum größten Teil auf den 17 ständigen Märkten der Stadt verkaufen. Diese leben auch von ihrer Internationalität, schließlich haben mehr als 40 Prozent der Einwohner Wiens eine ausländische Herkunft. Schnitzel trifft Falafel und Humus. Auch auf den Märkten. Wiener Küche ist Fusion-Küche. Die Einwohner sind experimentierfreudiger. Sollte man meinen.
Insekten statt Fleisch
Ausgerechnet auf Christoph Thomann traf das nicht zu. Er ist verantwortlich für den Insekten-Kochkurs, legte vor rund zehn Jahren den Grundstein für sein Wiener Unternehmen Zirp Insects. Er kann Rezepte mit Wurmmehl rauf- und runterbeten, während er Heuschrecken mit Meersalz brät. Thomann referiert über Haltung und Zucht der kleinen Tiere, hält Vorträge über die Novel-Food-Verordnung der EU, die regelt, dass Lebensmittel einer gesundheitlichen Bewertung unterzogen werden müssen, bevor sie in Verkehr gebracht werden dürfen. Aber am meisten überrascht sein Bekenntnis: „Ich habe ein Jahr gebraucht, bis ich mich getraut habe, Insekten zu probieren.“ Einige Teilnehmer atmen auf und schieben die Suppe mit den Mehrwürmern beiseite.
Anreise
Von München aus ist Wien praktisch halbstündig mit der Bahn zu erreichen. Die Fahrzeit beträgt vier Stunden. Falls ein Umstieg nötig ist (in der Regel in Salzburg) kann es auch eine halbe Stunde länger dauern. Sonst von zahlreichen deutschen Flughäfen nach Wien-Schwechat. www.bahn.de
Unterkunft
Hotel Stadthalle: preisgekröntes Haus in Sachen Nachhaltigkeit. Dank Photovoltaik, Solarenergie und Passivhaus-Standard produziert das Hotel nach eigenen Angaben so viel Energie wie verbraucht wird. Möbel und Inventar in den Zimmern bestehen teils aus Recycling-Produkten. Zudem hat man sich den „Sustainable Development Goals“ (SDGs) verschrieben, bei denen es um nachhaltige Praktiken und Abläufe geht. Phantastisch ist das Bio-Frühstücks-Buffet. DZ/F ab 100 Euro pro Person/Nacht. www.hotelstadthalle.at
Essen und Trinken
Jola: veganes Restaurant auf Spitzen-Niveau. Zehn bis zwölf Gänge, 140 Euro pro Person. www.jola.wien
Tian: vegetarisches Restaurant mit Michelin-Stern. Abendmenü (8 Gänge) für 155 Euro.
www.tian-restaurant.com
Labstelle: regionale Küche gleich am Stephansdom. https://labstelle.at/
Informationen über die Betriebe/Unternehmen
https://bluen.at
www.bruesli.com
https://zirpinsects.com
Die Reise wurde von der Österreich Werbung unterstützt.
Christian Schreiber